19.08.2024

Fakten und Wahrhaftigkeit

Vor Kurzem saß ich mit dem Thüringer Spitzenkandidaten der CDU, Prof. Dr. Mario Voigt, auf einem gemeinsamen Panel der Bauwirtschaft Hessen-Thüringen. Selbstverständlich spielte die ebenso unbestrittene wie unbedingte Notwendigkeit, Bürokratie abzubauen, die Bürger:innen, Kommunen und Unternehmen von überbordender Regulierung zu entlasten, eine wichtige Rolle.

Wie auf vielen Veranstaltungen zuvor und auch danach, z.B. beim TV-Duell der Spitzenkandidat:innen zur Landtagswahl behauptete Mario Voigt, Thüringen sei Spitzenreiter bei der Bürokratie in Deutschland. 

Ohne die Notwendigkeit eines ernsthaften und durchgreifenden Bürokratieabbaus zu relativieren, konfrontierte ich Mario Voigt beim Forum Bauwirtschaft damit, dass seine Behauptung, Thüringen sei deutschlandweiter Spitzenreiter bei der Bürokratie, empirisch nicht belegt sei. Vielmehr teilte die von mir genutzte KI-Plattform „Perplexitiy“ auf entsprechende Nachfrage mit: „Basierend auf den gegebenen Suchergebnissen gibt es keine direkte Aussage oder Studie, die Thüringen als ‚Spitzenreiter bei der Bürokratie‘ bezeichnet. Die Informationen deuten eher darauf hin, dass Bürokratieabbau in Thüringen ein wichtiges Thema ist, das angegangen wird.“

Mario Voigt konterte diesen Hinweis von mir mit dem Verweis darauf, dass die Nutzung künstlicher Intelligenz noch kein Ausweis intelligenter Nutzung der KI sei. Touché - rhetorisch gut gemacht. Dennoch keine Antwort zum Faktengehalt der Aussage.

Deshalb bemühte ich wiederum Perplexity mit der Nachfrage: „Welche Erkenntnisse gibt es darüber, dass das Land Thüringen Spitzenreiter bei der Bürokratie in Deutschland ist?“ Die Antwort lautete: „Die Behauptungen, dass Thüringen bei der Bürokratie führend sei, stammen hauptsächlich aus politischen Aussagen, insbesondere von der CDU Thüringen. Diese Aussagen basieren nicht auf einer spezifischen Studie, sondern sind Teil des politischen Diskurses.“

Erneut darauf angesprochen, winkte Mario Voigt ab und verwies abstrakt auf eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln), in der seine Aussage belegt sei. Ich greife selbst regelmäßig auf die Veröffentlichungen des IW Köln zurück. Die Thüringer Landesregierung hatte das IW Köln zu einer Kabinettklausur eingeladen. Ich war also interessiert, ob mir etwa eine entsprechende Untersuchung entgangen sei. Auch dies prüfte ich nun und fragte bei Perplexity nach, welche Studie des IW Köln einschlägig sei. Perplexity reagierte wie folgt: „Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) explizit festgestellt hat, dass Thüringen Spitzenreiter bei der Bürokratie ist. Die Behauptungen, dass Thüringen bei der Bürokratie führend sei, stammen hauptsächlich aus politischen Aussagen, insbesondere von der CDU Thüringen. Diese Aussagen basieren nicht auf einer spezifischen Studie des IW, sondern sind Teil des politischen Diskurses.“

Die einzige findbare Positionierung des IW Köln zum Thema Bürokratieabbau in Thüringen ist übrigens die Stellungnahme des IW-Köln-Wissenschaftlers Klaus-Heiner Röhl aus dem Januar 2022 zum Gesetzentwurf der CDU über die Einführung eines Thüringer Normenkontrollrates. Doch auch in dieser öffentlich zugänglichen Stellungnahme ist die Voigt-Behauptung nicht belegt. Der Thüringer Normenkontrollrat wurde zwischenzeitlich eingerichtet und arbeitet als unabhängiges Gremium bei der von mir geleiteten Thüringer Staatskanzlei.

Mario Voigt promovierte 2008 zum Dr. phil. in Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Seit 2017 hält Prof. Voigt eine Professur für Digitale Transformation und Politik an der privaten Berliner Quadriga Hochschule. In seinen beiden Rollen, sowohl als Politiker wie auch als Wissenschaftler, ist Wahrhaftigkeit ein hohes Gut. 

Wahrhaftigkeit fördert das Vertrauen zwischen Politike:innen und der Öffentlichkeit. Vertrauen ist die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft, da es die Bereitschaft der Bürger:innen stärkt, politische Entscheidungen zu akzeptieren und zu unterstützen. Kurzfristige politische Gewinne durch Unwahrheiten können langfristig das Vertrauen in den politischen Prozess untergraben. 

Wahrhaftige Quellenarbeit ist für Wissenschaftler:innen wiederum von entscheidender Bedeutung, da sie die Grundlage für die Glaubwürdigkeit, Integrität und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung bildet. Wissenschaftler:innen sind verpflichtet, die Arbeit anderer korrekt zu zitieren und ihre eigenen Beiträge ehrlich darzustellen. Plagiate oder die Verzerrung von Quelleninformationen können zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen. Deshalb sollen wissenschaftlich Tätige sicherstellen, dass sie die von ihnen genutzten Quellen korrekt interpretieren und darstellen, um fundierte und präzise Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der laxe Umgang mit den tatsächlichen Fakten an diesem konkreten Beispiel mag wie eine Petitesse wirken. Und in der Tat geht es vorrangig um die tatsächlichen Schritte zum Bürokratieabbau. Dafür legte auch die Thüringer CDU kluge und umsetzbare Vorschläge vor: Ebenso wie Ideen, die auf Stimmungen im Wahlkampf aber nicht auf die Lösung des tatsächlichen Problems abzielen.

Das hier betrachtete Beispiel wirft jedoch ein Schlaglicht auf die Arbeitsweise von Mario Voigt. Unberührt von der von mir vorgetragenen Quellenkritik hält er an seiner nicht belegten Behauptung fest. Und vertrat diese im MDR erneut und ohne jede Einschränkung in der Sendung, in der er sich als Ministerpräsident empfehlen wollte.